Verständnis ohne Worte – Fahrt an die ukrainische Grenze. Ein Erlebnisbericht.
Frieden. Frieden ist das, was sich so viele Menschen wünschen. Menschen, deren Heimat mit Krieg überzogen wird, deren Verwandte sterben, fliehen, verletzt werden, krebskranke Kinder keine Behandlung bekommen, Eltern vor ihren Kindern getötet werden. Menschen aus aller Welt, die hilflos bei skrupellosen Handlungen zusehen müssen. Die große Weltpolitik können wir nicht auf einen Schlag ändern, aber wir können den Menschen helfen, im Kleinen.
Daher war es uns ein riesiges Anliegen, die große Lächelwerk-Spendenaktion ins Leben zu rufen. So wahnsinnig viele wunderbare Personen haben Hilfsgüter abgegeben, immer ein freundliches Wort auf den Lippen. Wir danken Euch von ganzem Herzen! Allen Privatpersonen, Vereinen, Unternehmen, die uns so tatkräftig unterstützt haben – DANKE! Ungewöhnliche Wochen liegen hinter uns, in denen wir die gesammelten Hilfsgüter an die Grenze befördert und teilweise fliehende Menschen in Sicherheit gebracht haben, aus Rownia und Przemysl bzw. Medyka sowie Breslau.
Auch unser Matthias und ich, Anna, waren unterwegs. Ich berichte stellvertretend von unseren Erfahrungen in Przemysl, Medyka und Breslau:
„Anna steht vor uns, auf einem Rastplatz irgendwo in Polen. Sie gestikuliert, sagt ‚Lwiw, bum‘. Wir verstehen sie, auch ohne ukrainisch zu sprechen. Ein Tag zuvor hat Putin Raketen auf einen Militärübungsplatz nahe der polnischen Grenze, nahe Lwiw, abgefeuert. Es gab Tote, Verletzte, schon wieder. Anna ist mit ihrer Tochter und ihren zwei Enkelsöhnen aus der Ukraine geflüchtet. Einen Koffer hat die kleine Familie dabei, nur einen Koffer voller Habseligkeiten. Dazu ein paar Plastiktüten. Der Papa der Jungs zurückgeblieben in der Ukraine. Doch die vier wollen weg, weg vom Krieg, weg von Bomben, weg von Tod und Verstümmelung. Weg von der Heimat.
Anna, eine kleine ältere Dame – eine babuschka, wie sie mit einem kleinen Lächeln sagt – und ihre kleine Familie sind seit Breslau Teil von uns. Anna stützt sich auf ihren Gehstock, ihr Gesicht sorgenvoll, sie sieht müde aus. Verzweifelt, ihr Blick oft leer. Solche Gesichter haben wir die letzten Tage viele gesehen. Zu viele. Am Freitag sind wir zu zweit mit einem Transporter voller Hilfsgüter, gespendet von vielen wunderbaren Menschen, losgefahren in Richtung polnisch-ukrainische Grenze. Ziel: Przemysl. Seit Kriegsbeginn Fluchtpunkt vieler Ukrainer. Je näher wir Przemysl kommen, desto nervöser werden wir. Wir reden nicht mehr viel, tauschen eher Blicke, bestärken uns. Je näher wir Przemysl kommen, sehen wir aber auch viele, viele Transporter, Pkw und Lkw mit ukrainischen Flaggen, Friedenstauben. Aus Deutschland, Tschechien, der Niederlande, Österreich, Italien, Spanien… es sind viele Kennzeichen. Aus unterschiedlichen Ländern, vereint in Solidarität zu einem Land, das von Krieg überzogen wird.
Wer weiß, was mit ihnen passieren wird? Mit ihren Männern, Freunden, Familie?
In einem kleinen Einkaufszentrum, einem Tesco, haben Polen ein Notaufnahmelager errichtet. Auf dem großen Parkplatz Zelte, Pavillons mit kostenloser Nahrung, links Kleiderspenden, aus denen sich Menschen Jacken, Hosen, Schuhe aussuchen dürfen, davor die Polizei. Vor dem Polizeiwagen Holzstapel, die angezündet werden können, sollte es zu kalt werden. Denn kalt ist es, je später der Tag wird, es herrschen Minusgrade. Wir dürfen mit unserem Transporter einfahren, gegen 10.30 Uhr. Chaos. Der Parkplatz ist voll, es ist unübersichtlich, den Weg weisen kann uns niemand. Bis eine Volontärin uns sagt: Das Lager ist voll für den Moment, die Helfer*innen sind überlastet. Wir werden gebeten, noch näher zur Grenze zu fahren, nach Medyka, einem Dorf, etwa zehn Kilometer östlich von Przemysl, mit einem großen Grenzübergang zur Ukraine.
Ein schönes Dörfchen, ländlich, mit Kirche, Gärtchen, hier führen die Einwohner*innen in normalen Zeiten sicher ein beschauliches Leben. Ein Polizist versucht uns zu erklären, wo wir hinmüssen mit unseren Spenden, gestikuliert, versucht uns deutlich zu machen, dass hier Menschen direkt aus der Ukraine über die Grenze laufen. Seine Worte bewahrheiten sich kurze Zeit später. Massen an Menschen sammeln sich hier, es kommen immer mehr von ihnen hier an. Kinder an der Hand ihrer Mama, ein Kuscheltier im Arm. Alte Damen im Rollstuhl, mit Gehstock. Jugendliche mit Hunden, die ihren Vierbeiner doch irgendwie über die Grenze gebracht haben. Junge Frauen sitzen auf ihrem Koffer, blicken ins Leere. Kaum Männer. Überall diese Gesichter. Gesichter wie von Anna. Wer weiß, was sie gesehen haben? Wer weiß, wen sie zurückgelassen haben? Wer weiß, was mit ihnen passieren wird? Mit ihren Männern, Freunden, Familie?
Wir reden mit deutschen Sanitätern. Sie sind hier, um sich um Verletzte zu kümmern – sie sind extra angereist, um hier zu helfen, direkt an der Grenze in den Krieg. Menschen drängen sich in Busse, die sie weiterfahren nach Przemysl, immer wieder neue leere Busse, kurze Zeit später gefüllt mit Menschen. Ganz in der Nähe können wir die Spenden abladen. Hygieneartikel, Babynahrung, Tierfutter, Decken, Schlafsäcke, die wunderbare Menschen bei unserer Lächelwerk-Spendenaktion abgegeben haben.
Eine kurze Verschnaufpause, bevor wir zurückfahren nach Przemysl. Denn unsere Aufgabe ist erst zur Hälfte erledigt. Wir möchten Menschen mitnehmen nach Deutschland, in Ferienwohnungen zu uns ins Sauerland, damit sie wegkommen von Krieg, von Bomben, von Tod und Verstümmelung, weg von ihrer ehemals sicheren Heimat. Dazu haben wir Kontakt aufgenommen zu verschiedenen Facebook-Gruppen und Hilfsorganisationen.
Ein Stück Normalität an einem Ort, den es so oft gibt in dieser Welt. Und nirgendwo geben sollte.
Vor Ort ist alles ganz anders. Das umgewandelte Einkaufszentrum, der Tesco, ist voll mit Menschen. Direkt am Eingang ein Mann in gelber Weste, der in sein Mikrofon brüllt. Wir verstehen ihn nicht, sind aber ziemlich sicher, dass er verschiedene Destinationen ausruft, zu denen ukrainische Menschen mitfahren können, um sich in Sicherheit zu bringen. Wir lassen uns als Fahrer*innen registrieren, füllen Formulare aus, bekommen Bändchen, die uns als offiziell registriert kennzeichnen. Die Menschen aufgeteilt in ehemalige verschiedene Geschäfte, von 1 bis 16 – je nach ihrem gewünschten Ziel. Die 13 eine Essensausgabe, der Rest ausgestattet mit Feldbetten, Matratzen, auf denen Senioren liegen, Kinder, Menschen mit einer Behinderung. Auf dem Weg zur Nummer 10 – für Menschen, die unter anderem in die Niederlande, nach Belgien oder Deutschland reisen möchten – sehen wir Helfer*innen, die mit einem Lächeln rosa Zuckerwatte an die Kinder verteilen. Die Getränke in Hände drücken, kleine Naschereien ausgeben. Ein Stück Normalität schenken möchten an diesem Ort, den es so oft in dieser Welt gibt – und nirgendwo geben sollte. Wir beschreiben auf die Schnelle ein Plakat, auf das wir in großen Lettern Deutschland schreiben – auf englisch und ukrainisch. Dass wir eine Ferienwohnung haben für zum Beispiel eine kleine Familie.
Und warten. Warten auf Menschen, die Schutz in Deutschland suchen möchten. Kommen ins Gespräch mit Helfer*innen, die schon seit mehreren Stunden warten. Denn viele von den Ukrainer*innen möchten in der Nähe ihrer Heimat bleiben, um nach Kriegsende wieder zurück zu können in ihre Häuser, ihre Wohnungen, in der Hoffnung, sie nicht komplett zerbombt vorzufinden. Verständlich.
Wir informieren uns weiter, hören, dass am Breslauer Bahnhof viele Menschen warten. Wir entscheiden uns, dort zu helfen. Machen eine kurze Pause, bevor wir weiterfahren. Reden über den Tag. Matthias geht es besonders nah, dass wir einfach wieder wegfahren können von hier, im Bewusstsein, unsere Familien in Sicherheit zu wissen. Oder die junge Frau, die stundenlang auf ihrem Koffer saß und ins Leere geschaut hat. All die Krankenwagen, die hin- und hergerast sind. Und vielleicht den Menschen geholfen hat, die nahe Lwiw angegriffen wurden? Die vielen Helfer*innen, mit denen wir gesprochen haben, einer von ihnen sogar US-Amerikaner. Ich werde den Moment nicht vergessen, an denen wir allein an den Bahngleisen standen, weg von all dem Trubel. Ein Zug fährt langsam vorbei, ich winke, die Menschen winken zurück, die Kinder, die ihre kleinen Hände an die Scheiben drücken, die Mamas mit ihren Babys auf dem Arm, die alten Menschen. Sie kommen von Medyka, aus irgendeinem Ort in der Ukraine, der Krieg hinter ihnen, eine ungewisse Zukunft vor ihnen.
Der Hauptbahnhof in Breslau. Ein schönes Gebäude. Drinnen scheint es gerade geordnet zuzugehen, der Zug mit flüchtenden Menschen aus der Ukraine hat schon zwei Stunden Verspätung, mehr als 300 Menschen werden wieder erwartet, erzählt uns eine Mitarbeiterin einer polnischen Hilfsorganisation. Wieder lassen wir uns als Fahrer*innen registrieren, Mitarbeiterinnen stellen den Kontakt zu einer kleinen Familie her. Anna, ihrer Tochter und die zwei Enkelsöhne. Offensichtlich liebe Menschen, sie lächeln schüchtern, stellen sich auf ukrainisch vor. Vertrauen uns, trauen sich, mit uns in Sicherheit zu fahren. Mit zwei fremden Menschen, in ein fremdes Land, mit fremder Sprache. Wir verständigen uns mit Händen und Füßen, verstehen nicht alle Worte, aber verstehen einander.
All ihre Gefühle in einer Umarmung, einem Blick
Bis wir am Sonntag im Sauerland ankommen in der Ferienwohnung, bereitgestellt von einer wunderbaren Familie, die sich rührend um Anna, ihre Tochter und Enkelsöhne kümmert, lächeln sie uns zu, versuchen danke zu sagen und sprechen sogar einige deutsche Worte. „Großmutter“ zum Beispiel. Anna ist ganz offensichtlich stolz Oma zu sein, froh darüber, ein paar ihrer Lieben auf dem Weg in Sicherheit zu wissen. Wohl in Gedanken an die, die sie zurücklassen musste.
All ihre Gefühle versucht sie, versucht ihre Tochter, in eine Umarmung zu legen, die sie uns am Ziel schenken. Sie schauen uns an, mit Tränen, mit Augen, die so viel erzählen. Weg von Bomben, vom Krieg. Weg von ihrer Heimat, in einem fremdem Land. Doch in Sicherheit.“
Uns als Lächelwerk e.V. ist es sehr wichtig, geflüchtete Menschen nicht einfach ihrem Schicksal zu überlassen. Aus diesem Grund haben wir Ferienwohnungen im Schmallenberger Sauerland ausgewählt, deren Inhaberinnen und Inhaber sich rührend um die Menschen kümmern. Wir bauen des Weiteren ein Netzwerk aus ukrainischen Menschen, Dolmetscherinnen und Dolmetschern sowie Helferinnen und Helfern auf. Damit die Menschen hier bei uns das finden, was sie suchen: eine Heimat, und wenn sie auf Zeit ist.
Und, ebenfalls wichtig: Kriegsopfer sind Kriegsopfer. Wir dürfen nicht anfangen flüchtende Menschen nach ihrem Heimatland zu differenzieren.
DANKE FÜR EURE UNTERSTÜZUNG!